Selbstmedikation der Kaninchen - Zoopharmakognosie
(dieser Beitrag erschien in geänderter Form in der Kleintiernews 40/2018, S. 32-36)
Fortsetzung von Teil 1
Wenn man über viele Jahre bestimmte Gruppen von Wildkaninchen beobachtet, fallen
ungewöhnliche Verhaltensweisen einzelner Individuen relativ schnell auf. In dem
folgenden Fall handelte es sich um ein männliches Tier, dessen Nahrungssuche sich
auffällig von der normalen und dem der anderen Tiere unterschied. Kaninchen fressen
normalerweise selektiv bestimmte Pflanzen und von diesen die Blätter. Überwiegend
bewegen sie sich dabei langsam seit- und vorwärts. Sie riechen, fressen und weiden
auf diese Weise langsam eine bestimmte Fläche ab, die dann aussieht wie gemäht.
Gelegentlich bedienen sie sich auch an höher wachsenden Pflanzen wie Sträuchern,
fressen Laub von tiefhängenden Baumästen oder Baumblätter, die auf den Boden
gefallen sind. Sie nutzen bevorzugt immer wieder die gleichen Flächen, weil dort das
Grüne langsam immer wieder nachwächst und auf diese Weise ständig junge, zarte,
rohfaserarme und nährstoffhaltige Pflanzenblätter zur Verfügung stehen.
Das erwähnte Tier bewegte sich sehr unruhig durch das angestammte Revier, grub
immer wieder im Boden tiefere Löcher, wobei es oft „leer“ kaute, was darauf hinwies,
dass es Erde aufgenommen hat. Auch bei dieser Verhaltensweise, „Geophagie“
genannt, handelt es sich um eine mögliche Form der Selbstmedikation, weil
verschiedene Mineralien Gifte binden können und deren effektive Ausscheidung
fördern. Außerdem wurden ausgegrabene Pflanzen von der Wurzel her gefressen.
Das Nahrungsspektrum bestand während der Beobachtungen fast ausschließlich und
in großen Mengen aus Kräutern, wobei manche deutlich bevorzugt wurden. Die
folgenden Bilder wurden am 4.6.2015 aufgenommen.
Bild 14: Der Kopf tief in der Erde – Wildkaninchen beim Graben.
Bild 15: Ausgegrabene, junge Spitzwegeriche wurden von der Wurzel her gefressen
Bild 16: Normalerweise werden von den Pflanzen bevorzugt die Blätter gefressen, wie
in diesem Bild die von Spitzwegerich
Bild 17: Frisch gewachsene Gänsedistel, die von der Wurzel her gefressen wurde,
was eher ungewöhnlich ist. Auf diesem Bild erahnt man schon, was der Grund für die
ungewöhnliche Fressweise sein könnte (rechte Schulter)
Bild 18: Auf diesem Bild wird offenbar, was das Geheimnis hinter der unruhigen,
teilweise hektischen und fast verzweifelt anmutenden Fressweise war – das
Kaninchen hatte eine tiefe Wunde an der rechten Schulter. Die Größe und Tiefe lässt
einen Angriff durch einen freilaufenden Hund vermuten.
Während meiner Beobachtungen fraß das Tier in größeren Mengen vor allem
Brombeerblätter, Gänsedistel (Blätter und Wurzeln), Spitz- und Breitwegerich (Blätter
und Wurzeln), Gänsefingerkraut (Blätter), Schafgarbe (Blätter), Acker-Schöterich
(Blätter), verschiedene Gräser und gelegentlich Erde. Am 13.6.2015, also 9 Tage
später, war die Wunde zumindest grob geschlossen und der Heilungsprozess
vorangeschritten.
Bild 19: Bei flüchtiger Betrachtung würde man nicht sofort erkennen, dass das
Kaninchen an der Schulter eine große, tiefe Verletzung aufwies
Ein weiteres Bild vom 20.6.2015, also 16 Tage nach der Entdeckung der schweren
Schulterverletzung, bestätigte den Eindruck des rasanten Heilprozesses.
Bild 20: Das Bild zeigt gegen die Fellrichtung, dass es noch Fehlstellen durch die
Verletzung gab, aber ansonsten ist der Heilprozess weit fortgeschritten. Zu diesem
Zeitpunkt hatte sich auch die Fressweise des Tieres wieder „normalisiert“.
Neben seinem Immunsystem standen dem Tier im beobachteten Zeitraum vom 4.-
20.6.2015 als mögliche „Heilmittel“ nur die Pflanzen zur Verfügung, die in seinem
Lebensraum wuchsen. Einige von diesen wurden, abweichend zu den Zeiten ohne
Verletzung, exzessiv aufgenommen. Außerdem wurden bestimmte Pflanzen
ausgegraben und mit der Wurzel gefressen. Dabei handelte es sich um relativ junge
Kräuter. Die folgende Tabelle gibt diese Pflanzenauswahl nebst einigen Anmerkungen
zur jeweiligen Art wieder. Dabei handelt es sich nur um die Pflanzen und deren
gefressene Teile, deren Aufnahme bei Tageslicht direkt beobachtet werden konnte
(Tabelle 1).
Tabelle 1: Pflanzen, die ein verletztes Tier gefressen hat und ihre Wirkungen
1 Monographie BGA/BfArM (Kommission E); 2 Hänsel et al., 1992;
3 Hänsel et al., 1996; 4 Hänsel et al., 1994; 5 Zubair et al., 2012; 6 Li & Yang, 2018
Ohne in diesem Artikel näher auf die einzelnen Wirkungen der Pflanzenstoffe
einzugehen, lässt sich feststellen, dass sie offenbar bestens geeignet sind, eine
Verletzung ausheilen zu lassen. Für Hauskaninchen beschränkt sich die tierärztliche
Behandlung in der Regel auf die Wundversorgung und Medikamentengabe, die vor
allem Entzündungen vorbeugen sollen. Die Natur bietet jedoch in Form von frischen
Kräutern zusätzliche Aspekte, die Kaninchen in der Haustierhaltung mit suboptimaler
Ernährung oft verwehrt bleiben. Dazu zählt z. B. bereits die simple Versorgung mit
Wasser. Tiere, denen überwiegend trockene Nahrung bereitgestellt wird, nehmen trotz
zusätzlicher Verfügbarkeit von Wasser nicht die gleichen Mengen auf wie bei der
Versorgung mit frischen Pflanzen (Rühle, 2017). Vor allem Kräuter enthalten zudem
essentielle, mehrfach ungesättigte Fettsäuren in einem optimalen Verhältnis, die
Entzündungsreaktionen und das Immunsystem positiv beeinflussen.
Viele wissenschaftliche Arbeiten beschäftigen sich im Zusammenhang mit Nähr- oder
Sekundärstoffen von Pflanzen im Humanbereich. Die Autoren Li und Yang fassten
2018 z. B. als Erkenntnis aus Daten verschiedener Gänsedistel-Arten (Sonchus spp.)
zusammen, dass sie als wichtige medizinische Kräuter sowie Futtermittel mit einem
hohen Nährstoffgehalt in Frage kommen könnten. Neben einem hohen Gehalt an ω-3-
und ω-6-Fettsäuren verfügen sie über eine antimikrobielle und wundheilende Wirkung.
In den untersuchten Arten überwogen die ω-3-Fettsäuren, die Entzündungsreaktionen
im Körper unterdrücken, während ω-6-Fettsäuren solche fördern. Guil‐Guerrero et al.,
1988 stellten fest, dass z. B. die Gewöhnliche Gänsedistel (Sonchus oleraceus) einen
mittleren Vitamin-C-Gehalt von 779 mg/kg aufweist. Daraus ließe sich schließen, dass
77 g von Blättern dieser Art pro Tag eine ausreichende Menge an Vitamin C liefern
würde, um die damals empfohlene Tagesdosis von 60 mg pro Person zu erreichen.
Interessant sei das deshalb, weil im Vergleich für eine entsprechende Menge Vitamin
C die Tagesmenge aus 260 g Tomaten, 600 g Salat oder 118 g Spinat bestehen
müsste. Vitamin C ist enorm wichtig für das Immunsystem, bei Entzündungen und für
viele andere Prozesse im Körper – egal ob Mensch oder Tier. Als wasserlösliches
Vitamin muss es ständig über die Nahrung aufgenommen werden. Überschüssige
Mengen werden über den Urin ausgeschieden.
Tomczyk und Latté stellten 2009 fest, dass aktuelle, pharmakologische Studien die
traditionelle Verwendung von Potentilla-Arten (Fingerkräuter) als Mittel gegen
Entzündungen, Colitis ulcerosa (chronisch-entzündliche Darmerkrankung),
bestimmten Formen von Krebs, viralen und mikrobiellen Infektionen,
Beeinträchtigungen des Immunsystems, Diabetes mellitus, Spasmen und
Leberbeschwerden bestätigt haben. Die meisten biologischen Wirkungen der
Potentilla-Arten lassen sich durch den hohen Anteil an kondensierten und
hydrolysierbaren Tanninen erklären, so z. B. die antiviralen, antimikrobiellen,
immunmodulierenden, leberschützenden und entzündungshemmenden Wirkungen.
Tannine gehören zu den Sekundären Pflanzenstoffen und werden auch als
„Gerbstoffe“ bezeichnet.
Hauskaninchen ohne Zugang zur Natur bleiben viele der beschriebenen Möglichkeiten
der Prophylaxe und Unterstützung natürlicher „Medikamente“ in Form frischer
Pflanzen und entsprechender Haltung bei Erkrankungen verwehrt. So böte die
Haltung auf natürlichen Böden den Zugang zu Mineralien wie z. B. Siliziumdioxid
(SiO2), welches nachweislich die Wundheilung und das Immunsystem beeinflusst.
Üblicherweise werden sie über Pflanzen aufgenommen, ein höherer Bedarf könnte
durch Geophagie befriedigt werden. Industrielle Trockenfutter mit ca. 5-7 getrockneten
Pflanzenarten enthalten zwar quantitativ die erforderlichen „Rohnährstoffe“, bieten
aber bei weitem nicht die Vielfalt und den Gehalt an „Sekundären Pflanzenstoffen“,
wie sie bei freier Wahl aus einer Vielfalt frischer Wiesenpflanzen zur Verfügung stehen
können. Zu diesen gehören auch „Giftstoffe“, die in geringen Mengen kurativ, also
heilend wirken können. Kompaktierte Trockenfutter lassen keine Selektion von
Nährstoffen zu, mit der Kaninchen auf ihren jeweiligen Gesundheitszustand reagieren
könnten. Ob gesund oder krank – mit industriellen Fertigfuttern wie Pellets müssen sie
immer das gleiche fressen und können auf Ausnahmesituationen nicht reagieren.
Als letztes Beispiel in dem kleinen Exkurs zum Thema „Zoopharmakognosie“ mag ein
weibliches Hauskaninchen dienen, welches in unserem Garten freien Zugang zu
verschiedenen Pflanzen hatte. Außerdem wurden die Tiere zusätzlich mit
verschiedenen Pflanzen von umliegenden Wiesen versorgt. Für den eigenen
Verbrauch hatten wir u. a. Schnittlauch (Allium schoenoprasum) in Töpfen gezogen,
die auf der Terrasse standen und zu denen alle Kaninchen ebenfalls freien Zugang
hatten. Die Giftpflanzendatenbank „CliniTox“ vermeldet für die „ganze Pflanze“ ein
„giftig +“ und für die „Toxine“ von Allium-Arten „giftig+ bis stark giftig ++“. Eingegangen
wird in Bezug auf die Toxine jedoch nur auf die Küchenzwiebel (Allium cepa) und
Knoblauch (Allium sativum). Wie auch immer: von einem Tag auf den anderen
entschied sich die Häsin plötzlich, jeden verfügbaren Schnittlauch zu fressen.
Bild 21: Neben der Wiese, auf der die Tiere leben, stehen ihnen zusätzlich
verschiedene Wiesenpflanzen zur Verfügung
Bild 22: Ohne ersichtlichen Grund fraß eine Häsin unseren kompletten, angepflanzten
Schnittlauchvorrat auf. Kein anderes unserer Kaninchen bediente sich zu dieser Zeit
von diesen Pflanzen. Nach ca. 2 Tagen ließ der Verzehr nach.
Warum das Kaninchen für eine kürzere Zeit große Mengen Schnittlauch fraß, ist nicht
bekannt, weil es im weiteren Verlauf nicht erkrankte. Vermutlich litt es aber an einer
beginnenden Infektion. Schnittlauch enthält u. a. Alliin, eine nicht-proteinogene
Aminosäure. Ein Umsetzungsprodukt dieser Aminosäure ist Allicin, für dessen
Umwandlungsprodukte wiederum antibakterielle und antivirale Eigenschaften
nachgewiesen wurden (Ilić et al., 2011).
Zusammenfassung
Für Wildkaninchen sind bisher keine dokumentierten Fälle für Selbstmedikationen
bzw. Zoopharmakognosie bekannt, weshalb dieser Artikel einen kleinen Einblick in die
Fähigkeit dieser Tiere bieten soll, Verletzungen mit Hilfe einer angepassten
Nahrungswahl zu kurieren. Die Beispiele zeigen, wie Wildkaninchen auf Grund
äußerer Verletzungen identifiziert und Heilungsprozesse über eine längere Zeit
verfolgt werden können. Veränderte Verhaltensweisen in der Nahrungsselektion sowie
die aufgenommenen Mengen spezieller Pflanzen in Form von Kräutern lassen den
Schluss zu, dass diese gezielt gefressen wurden, um Heilungsprozesse von
Verletzungen und Entzündungen zu fördern. Auffällig waren zudem das eher
unübliche Ausgraben junger Pflanzen und ihr Verzehr mitsamt der Wurzel sowie die
Aufnahme von Erde (Geophagie). Da Wildtieren nur diese Möglichkeiten der
Versorgung mit offensichtlich „heilenden“ Komponenten zur Verfügung stehen, ist die
Sterblichkeit auf Grund von Verletzungen und Infektionen trotzdem hoch. Die
Beobachtungen können keine Aussage darüber liefern, wie viele Tiere einer
Population mit Hilfe der Selbstmedikation tatsächlich selbst stark entzündende
Wunden kurieren und auf diese Weise überlebten. Das älteste Tier einer Gruppe,
welches starke Verletzungen aufwies, war mindestens 3,5 Jahre alt. Ähnliche
Verhaltensweisen wie bei Wildkaninchen lassen sich auch bei Hauskaninchen
beobachten. Wenn auch der Grund nicht immer offensichtlich ist, so reagieren auch
sie bei vorhandenen Möglichkeiten durch eine entsprechende Nahrungsanpassung.
Für Herbivore wie Kaninchen stellen also Pflanzen in ihren Lebensräumen nicht nur
die Versorgung mit Nährstoffen sicher – sie sind auch gleichzeitig die Apotheke,
welche Sekundäre Pflanzenstoffe zur Verfügung stellt, die den Tieren prophylaktisch
und im Fall von Erkrankungen dienlich sein können.
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